Die Frage „überhaupt“ nach Diagnostik
Sie jonglieren mit komplexen Projekten, durchschauen Zusammenhänge blitzschnell, entwickeln in einem Atemzug 25 neue Ideen und gelten in ihrem Umfeld als „etwas anstrengend“… ist das jetzt ADHS oder eine Hochbegabung?
Eine Diagnostik wird meistens durchgeführt, wenn sich im Schul- oder Arbeitsalltag Herausforderungen einstellen, die auf eine Besonderheit schließen lassen, mit dem Ziel, eine Lösung für diese Herausforderungen zu finden. Manche Menschen halten eine Intelligenzdiagnostik für überflüssig. Andere – insbesondere spät erkannte Hochbegabte – sind dagegen oft erleichtert, wenn sie endlich eine Erklärung für verschiedene Situationen haben und bauen einen ganz neuen Selbstwert auf. Auch das Papier mit der Zahl und dem Stempel hat darauf einen Einfluss. Denn dieser Wert ist nachgewiesen – auch wenn man selbst ihn dann und wann noch anzweifeln mag. Bei anderen neurodiversen Herausforderungen ist dagegen eine Diagnostik in der Gesellschaft vollständig anerkannt – beispielsweise bei ADHS oder Autismus. Denn hier geht es ja darum, ein „Defizit“ zu belegen. Allzu häufig wird daher bei einer Hochbegabung erst einmal ADHS vermutet – was stimmen kann, aber nicht muss.
Wenn Diagnostik relevant wird
Speziell bei ADHS ist eine Diagnostik notwendig, um Medikamente ausprobieren zu dürfen oder eine von der Krankenkasse finanzierte Psychotherapie in Anspruch nehmen zu können. ADHS-Therapie wird bezahlt, Hochbegabungs-Coaching in der Regel nicht. Auch nicht, um Depressionen vorzubeugen.
Allerdings zeigt sich hier bereits eine erste Hürde: Für eine ADHS-Diagnose müssen Symptome bereits im Alter zwischen acht und zehn Jahren objektiv nachweisbar gewesen sein. Wenn keine Unterlagen aus der Kindheit vorliegen und niemand anderes aus Kindertagen befragt werden kann, wird wegen dieser formalen Kriterien schon keine Diagnose gestellt – selbst wenn die Symptomatik eindeutig erscheint. In solchen Fällen kann bei vorliegenden Symptomen noch auf andere Diagnosen wie Depression oder Anpassungsstörung ausgewichen werden, um eine Therapie überhaupt zu ermöglichen. Man sollte jedenfalls schon selbst die Problematik und Zielsetzung benennen können. Die nächste Schwierigkeit stellt dann die Suche nach einem Therapieplatz dar – am besten bei einer Therapeutin, die sich mit Hochbegabung auskennt, die womöglich selbst hochbegabt ist und eine individuelle Therapieprozessbegleitung anbietet, denn die Prozesse laufen bei Hochbegabten durchaus mal anders ab als beim „Standard“.
Die Tücken der IQ-Diagnostik bei ADHS
In der Differentialdiagnostik zwischen ADHS und Hochbegabung liegen besondere Tücken: Eine ADHS-Diagnostik enthält in der Regel auch einen IQ-Test. Doch gerade IQ-Diagnostik ist sehr fehleranfällig – und das nochmal besonders, wenn ADHS oder auch Hochsensibilität im Spiel ist. ADHS-Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten oder Impulsivität können die Testergebnisse des IQ-Tests beeinflussen. Das bedeutet: Der gemessene IQ bildet möglicherweise nicht den wirklichen IQ ab.
Das eigentliche Problem liegt jedoch tiefer: Wenn sowohl ADHS als auch Hochbegabung vorliegen, sind beide Testergebnisse womöglich nicht valide. Die hohe Intelligenz wirkt kompensatorisch und maskiert ADHS-Symptome, während gleichzeitig die ADHS-Symptome die Messung der tatsächlichen kognitiven Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können. Außerdem haben Hochbegabte typischerweise einen sehr hohen Anspruch an sich selbst und beantworten so manche Fragen zu Funktionsstörungen anders als Menschen mit einem „normaleren“ Anspruch an sich selbst. Hier wird die Fremdeinschätzung besonders relevan – und für die hochbegabte Person oft auch interessant… 😉
Im schlimmsten Fall bleibt beides unerkannt: Die Person funktioniert scheinbar „normal“, lebt mit ihren Herausforderungen – aber sie wird ihr Potenzial nicht entfalten können. Stattdessen entwickeln sich möglicherweise Selbstzweifel, das Gefühl, nie wirklich anzukommen, oder die quälende Frage: „Warum ist das alles für mich so schwer, obwohl ich doch eigentlich kann?“ Am Ende landet sie womöglich mit Depressionen bei einem Therapeuten, der sich weder mit ADHS noch mit Hochbegabung auskennt und sich wundert, warum die Therapie der Depression nicht so anschlägt wie sonst.
Der feine Unterschied
Was für einen Unterschied macht denn die richtige oder falsche Diagnose für mein tägliches Chaos? Die Ursachen für das „Chaos internale“ sind unterschiedlich – und die Hilfestellungen sind es damit auch. Während Menschen mit „reinem“ ADHS schon viel über Organisationstechniken verbessern können, bleiben Hochbegabte weiterhin überfordert – denn die Ideen purzeln einfach weiter oder werden sogar noch mehr. Bei reinen Organisationstechniken muss ich damit immer mehr Dinge organisieren. Bei Hochbegabten helfen dagegen eher Techniken, die das Denken strukturieren und nicht „nur“ die Resultate des Denkens organisieren. Das assoziative Denken von Hochbegabten führt auch nicht nur zu einem Ideen-Chaos. Selbst Aussagen wie „Ich habe am Wochenende meine Mutter besucht.“ haben viel mehr Ebenen und Zwischentöne für Hochbegabte. Auch das Zeitmanagement für Hochbegabte sieht anders aus als für den normalen Menschen – und auch das gilt erst recht für Hochbegabte mit ADHS, denen öfter mal auch eine Kombination aus verschiedenen Techniken hilft.
Auch Prokrastination ist bei Hochbegabten anders ausgeprägt als bei normalen Menschen. Manche Aufgaben sind bei Hochbegabten deutlich stärker emotional aufgeladen und werden deshalb nicht erledigt. Die Lösungen sehen daher auch ganz anders aus.
Lösungswege selbst denken
Zu guter Letzt haben manche Hochbegabte eine ganz paradoxe Herausforderung: fehlende Problemlösestrategien. Zu beobachten ist dies besonders bei hochbegabten Kindern im Mathematikunterricht. Hier schreiben sie – besonders in der Grundschule – zum Teil den Lösungsweg nicht hin, weil sich die Lösung einfach „im Kopf“ präsentiert. Bei komplexeren Fragestellungen ist dann allerdings keine Strategie oder Technik verfügbar, weil diese nicht gelernt und trainiert wurde. Dies führt dann später zur Ablehnung von Aufgaben, bei denen sich eine Lösung nicht sofort „von selbst“ präsentiert – einschließlich bei Herausforderungen im Alltag. Die Möglichkeit, sich einen Weg aus der Situation selbst auszudenken oder ihn auszuprobieren, fehlt. Statt dessen wird auch auf einen bestimmten Lösungsweg bestanden – Alternativen oder andere Ideen werden schwer oder gar nicht zugelassen, was besonders in Team-Settings schwierig werden kann. Hochbegabte lehnen manchmal Lösungen ab, einfach weil ihnen der Weg nicht sofort klar ist. Dabei gibt es für die meisten Herausforderungen ganz individuelle Lösungen – besonders bei Hochbegabten! Man muss sie nur finden.
Neurodiversitäten und ihre Stempel
Gerade bei Hochbegabung dient der Stempel oft dem Selbstbild. Ich habe es „schwarz auf weiß“, dass ich nicht „blöde“ bin – auch wenn ich von anderen nicht verstanden werde. Weitere zentrale Fragen bei der Lösungsorientierung von neurodiversen Herausforderungen ist danach allerdings nicht nur „Wie können andere verstehen, dass und wie ich anders bin?“, sondern auch “Wie ist mein Denkstil und welche Herausforderungen bringt dieser mit sich? Was kann meine individuelle Lösung sein?“ Die Lösungen sind oft ganz unterschiedlich und der Weg zu ihnen ist mit bunten Alternativen und dem Ausprobieren vieler Möglichkeiten gepflastert. Gerade die Lösungen für Hochbegabte sind oft spezifisch und so komplex, dass ein normalbegabter Mensch die Technik kaum versteht, die dem anderen das Leben erleichtert. Was bei der Entwicklung der eigenen Strategie helfen kann, ist der Gedanke „Warum genau hat mir diese Technik jetzt nicht geholfen?“ – um aus diesem Mangel vielleicht eine komplett neue Technik für sich selbst entwickeln zu können. Der richtige „Stempel“ kann auf diesem Weg aber ein passender Wegweiser sein.
Deshalb arbeitet das Proteus-Projekt an einer Auswahl von Möglichkeiten und insbesondere Austauschformaten, um die eigene Methode entwickeln zu können!
An dem Artikel haben mitgewirkt: Eva Kippenberg, Ute Schiebusch-Reiter und claude.ai.