Die „letzte Meile“ – die Verzweifelung an der unvollständigen Lösung

Die Qualität eines Projekts oder eines Auftrags bemisst sich an seiner Konzeption, an seiner vollständigen Umsetzung und dem „Realitäts-Check“: der Zweckmäßigkeit. Was aber, wenn an allen drei Stellen geschlampt wird? Und ab wann kann man von „schlampen“ sprechen? Auch hier setzen Hochbegabte oft andere Maßstäbe als Chefs und Kollegen an und werden dadurch zum ungeliebten, meckernden Teammitglied.

Was ist die „letzte Meile“?

Die „letzte Meile“ bezeichnet jene finalen Schritte eines Projekts, die notwendig sind, um es wirklich abzuschließen und seine volle Wirkung zu entfalten. Entscheidend ist: Diese letzte Meile existiert nicht erst am Ende eines Projekts, sondern ist bereits zu Beginn der Planung als Gedankenkonstrukt angelegt – oder eben nicht. Während für viele ein Projekt als „erledigt“ gilt, sobald die Hauptarbeit getan ist, sehen Hochbegabte oft schon in der Konzeptionsphase die langfristigen Konsequenzen und Denkfehler, deren Beachtung für ein rundes Gesamtergebnis essentiell sind.

Nehmen wir als Beispiel einen Bahnübergang, der neu gestaltet wurde. Damit der Verkehr fließen kann, sollte die Bahnlinie erhöht werden und die Straße tiefer gelegt, so dass die Autos unter der Bahnlinie hindurchfahren können. Dabei wurde jedoch nicht überlegt, wie hoch so ein üblicher Lastwagen ist. Mit dem Ergebnis, dass Lastwagen durch diese Unterführung nicht durchpassen. Nun muss für teures Geld nachgebessert werden und wieder wurde in der Planung etwas übersehen: In diesem Bereich ist das Grundwasser vergleichsweise hoch. Nun soll die Straße noch etwas tiefer gelegt werden – und in der Planung denkt offenbar niemand an Hochwasser und Überschwemmung, die die Unterführung immer wieder unpassierbar lassen werden. Zusätzlich ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass immer wiederkehrende Hochwasser das Brückenfundament unterspülen kann, was in absehbarer Zeit zu hohen Kosten für den Erhalt der Bahnbrücke führen wird. Hochbegabte denken solche Konsequenzen eher mit. Das kostet zwar am Anfang in der Planung manchmal Nerven, spart jedoch in der Durchführung viel Geld.

Für Hochbegabte ist oft von Anfang an offensichtlich, dass hier Probleme auftauchen werden – doch sind sie oft nicht in der Lage, sich mit ihren Bedenken schon im Vorfeld Gehör zu verschaffen. Allzu oft werden sie als „Querulant“ und „nervig“ abgetan. Um ihre Arbeit aber als sinnvoll zu sehen, müssen für sie Projekte, Aufgaben und Lösungen „rund“ sein. Und das heißt, dass alle Konsequenzen mitgedacht werden. Zu diesen Konsequenzen gehört auch die Frage, was mit dem Resultat des Projekts passiert, wie es seine Übersetzung in den Alltag findet. Wie wird beispielsweise eine Software-Lösung so implementiert und geschult, dass sie von der Belegschaft auch genutzt wird? Für Hochbegabte macht ein Projekt erst Sinn, wenn es vollständig durchdacht ist. Die fehlende letzte Meile – in der Planung und in der Durchführung – ist für sie nicht nur ein Schönheitsfehler, sondern ein fundamentales Planungsproblem, das die Qualität und Nutzbarkeit des Gesamtergebnisses grundlegend in Frage stellt.

Warum die letzte Meile besonders Hochbegabte frustriert

Das Denken Hochbegabter zeichnet sich oft durch besondere Merkmale aus. Ihr vernetztes Denken lässt sie nicht nur die unmittelbaren Ergebnisse sehen, sondern auch die langfristigen Konsequenzen und Wechselwirkungen. Sie haben typischerweise hohe Qualitätsansprüche, sodass das, was für andere „gut genug“ ist, für Hochbegabte oft nicht den eigenen Standards entspricht. Zudem fühlen sie sich häufig über die Zuständigkeitsgrenzen hinaus für das Ergebnis verantwortlich.

Die Frustration entsteht besonders dann, wenn sie bereits in frühen Planungsphasen erkennen, dass zentrale Aspekte nicht berücksichtigt werden, nach intensiver Vorarbeit und durchdachten Konzepten die finale Umsetzung ausbleibt oder verwässert wird. Was für andere unsichtbar ist – die nicht gegangene oder nicht mitgedachte letzte Meile – ist für Hochbegabte dauerhaft schmerzlich präsent.

Der Umgang mit der letzten Meile im Berufsalltag

Für Führungskräfte und Teams:

Eine klare Auftragsklärung von Anfang an ist essenziell. Die letzte Meile sollte bereits zu Beginn eines Projekts mitgedacht und kommuniziert werden. Fragen Sie sich und vor allem auch andere: Was genau ist das Ziel? Wann ist das Projekt wirklich abgeschlossen? Welche langfristigen Konsequenzen sind zu bedenken?

Statt die hohen Qualitätsansprüche und vermeintlich „teuren“ Impulse und Fragen von „bestimmten Teilen der Belegschaft“ als „nervig“ abzutun, sollten diese insbesondere in teuren Projekten genutzt werden. Die Fähigkeit, „die Konsequenz von der Konsequenz“ zu durchdenken, ist ein wertvolles Asset, das bereits in der Planungsphase eingesetzt werden sollte – denn am Ende kann hier extrem viel Zeit gespart werden!

Für viele ist es schon entlastend, ihre Frustration über unvollendete oder falsch konzipierte Projekte ausdrücken zu können: „Im Moment fällt es mir leichter, weil meine Position klarer ist und ich meine Emotionen loswerden kann – ich kann meinem Chef auch mal sagen „Das passt mir jetzt gar nicht!“.“ Hierfür braucht es Transparenz und ausreichend Selbstbewusstsein bei allen Beteiligten. Die Frage nach der letzten Meile ist nicht als Kritik gedacht und sollte so auch nicht verstanden werden.

Für Hochbegabte:

Ein zentrales Problem liegt darin, dem Team die letzte Meile überhaupt sichtbar zu machen. Die „letzte Meile“ frustet die anderen nicht, weil sie ihnen gar nicht bewusst ist! Wer am Anfang den Mund hält, „weil ja eh niemand zuhört“, darf sich am Ende nicht wundern, wenn sich das Problem nicht in Luft aufgelöst hat.

Ein wichtiger Lernprozess für viele Hochbegabte ist, die Verantwortung dort zu belassen, wo sie hingehört. Sie suchen sie häufig zuerst bei sich selbst, weil sie ihren eigenen Anteil am Resultat steuern können. „Ich habe gelernt, die Verantwortung bei mir selbst zu sehen – ich mache Recherche, bereite Dinge vor und dann passiert nichts mehr. Heute gebe ich die Verantwortung ab. Ich bereite die Dinge vor und lasse sie dann liegen.“

Eine andere Möglichkeit, mit der Frustration umzugehen, ist die Lösung zu erarbeiten und bereits fertig zu haben, wenn das Problem dann auftaucht – was oft genug mit Sicherheit passiert. Das setzt natürlich eine Bereitschaft voraus, sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder in das Thema einzuarbeiten und kann dazu führen, dass mehrere „offene Wunden“ im Hinterkopf lauern. Viele Hochbegabte setzen sich selbst unter Druck, dann besonders schnell auf das Problem zu reagieren und sich in das verwundete Projekte wieder einzuarbeiten. Ein wichtiger Lerneffekt für Hochbegabte: selbst wenn sie langsam arbeiten, sind sie oft immernoch schneller als die lieben Kollegen. Und wenn das Projekt bis jetzt auf den runden Abschluss warten konnte, dann spielen zwei Wochen mehr meistens auch keine große Rolle. Das nimmt viel Druck raus.

Kleiner Spoiler: auch die Selbständigkeit löst das Problem der letzten Meile meistens nicht. Natürlich ist man dann selbst für Konzeption und Durchführung der Projekte verantwortlich. Aber meistens ist es doch praktikabler, schonmal mit einem Provisorium loszulegen. Welches Provisorium dann zu einem späteren Zeitpunkt abgerundet wird, entscheidet dann die zur Verfügung stehende Zeit und das Feedback von außen.

In jedem Fall ist es ratsam, sich hinsichtlich der letzten Meile ein etwas dickeres Fell zuzulegen – um den Mangel liegen sehen zu können oder auch um auf eben diese Meile zu bestehen, wenn es wirklich wichtig ist.

Die letzte Meile als Chance

Die besondere Aufmerksamkeit Hochbegabter für die letzte Meile muss nicht nur Quelle von Frustration sein. Sie kann auch zu nachhaltigeren, durchdachteren Ergebnissen führen. Eine mögliche Lösung liegt in der bewussten Integration der letzten Meile in den Projektprozess von Beginn an:

„In einer idealen Zukunft ist die letzte Meile schon im Auftrag enthalten. Eine 80%-Lösung ist dann immer auch der Start des Folgeprojekts.“ Das lässt sich beispielsweise umsetzen, indem der Sinn und Zweck – das langfristige, bestenfalls „smarte“ Ziel der Aktion schon im Auftragstext enthalten ist. Also nicht „Bereitstellung einer Software“, sondern eher „Das Ziel ist, dass eine Software entwickelt wird, die bis Jahresende in 60% der Behörden der Stadt genutzt wird“.

Fazit: Die Brücke bauen – mit Unterbau von Anfang an

Das Bild der Brücke aus unserem Beispiel ist bezeichnend: Eine Lösung, die zentrale Aspekte nicht berücksichtigt (in diesem Fall die Höhe der LKW und im nächsten Schritt der Grundwasserpegel), führt zwangsläufig zu Problemen und Nacharbeiten. Für Hochbegabte ist dieser Mangel an vorausschauender Planung typischerweise früh erkennbar und entsprechend frustrierend.

Die Herausforderung für Führungskräfte und Teams besteht darin, das besondere Qualitätsverständnis und die Fähigkeit zum vernetzten Denken Hochbegabter als Ressource zu begreifen und bereits in frühen Projektphasen konstruktiv zu nutzen. Für Hochbegabte selbst liegt die Kunst darin, ihre hohen Standards und ihre Fähigkeit, die letzte Meile mitzudenken, mit der betrieblichen Realität in Balance zu bringen – ohne dabei ihre besondere Stärke des vernetzten, vorausschauenden Denkens aufzugeben.

Die letzte Meile zu planen und zu gehen – oder bewusst nicht zu gehen – sollte eine reflektierte Entscheidung sein, keine Folge unklarer Verantwortlichkeiten oder mangelnder Kommunikation. Denn am Ende sind es oft genau diese letzten Konsequenzen, die schon in der Planung bedacht werden müssen und die den Unterschied zwischen einem mittelmäßigen und einem exzellenten Ergebnis ausmachen. Und auch viel Geld sparen können.


An diesem Artikel haben mitgewirkt:
Eva Kippenberg, Melanie Nose, Astrid Puchinger, Yvette Uphoff und Corinna Kegel

Cookie Consent Banner von Real Cookie Banner