„Intelligenz ist die Fähigkeit, sich an neue Situationen anzupassen.“
So oder so ähnlich hat William Stern Intelligenz definiert. Doch die Realität für Hochbegabte im Berufsleben sieht oft anders aus: Statt sich neuen Situationen und Herausforderungen anzupassen, werden sie implizit dazu gezwungen, sich dem Umfeld anzupassen – ihren Arbeitsstil zu verlangsamen, ihre Denktiefe zu begrenzen, ihre Wahrnehmung zu dämpfen.
Die verborgene Belastung der ständigen Anpassung
Hochbegabte passen sich permanent an:
- An das Tempo der anderen
- An die Komplexitätstoleranz ihres Umfelds – Hochbegabte halten mehr Komplexität aus als andere Menschen, die von Komplexität schneller überfordert sind
- An die emotionalen Reaktionen der Kollegen
- An die unausgesprochene Regel: „Bitte nicht zu viel selbst denken!“
Diese Anpassung hat einen hohen Preis: Sie kostet Energie, führt zu Frustration und verhindert, dass echtes Potenzial genutzt wird. Die Anpassungsleistung besteht paradoxerweise oft darin, die eigene Tiefe und Geschwindigkeit zurückzuhalten – genau die Fähigkeiten also, die Stern als Intelligenz definierte und die eigentlich wertvoll wären, um Lösungen für neue Herausforderungen zu finden.
Drei Dimensionen der Anpassung
Die Anpassung erfolgt auf drei Ebenen:
- Fachlich – Themen nicht in der möglichen Tiefe bearbeiten können
- Persönlich – Nicht gesehen werden mit den eigenen Stärken
- Energetisch – Demotivation durch ständiges Ausbremsen
Besonders belastend: In vielen Fällen müssen Hochbegabte darauf achten, dass das Setting für ihre Äußerungen stimmt. Die kognitive Kapazität wird für Planung und Emotionsregulierung aufgewendet – nicht für den eigentlichen Inhalt.
Wenn die Anpassung zu Konflikten führt
Ein großes Problem: Hochbegabte identifizieren oft schnell die tatsächlichen Schwachstellen – auch wenn diese nicht Teil des offiziellen Auftrags sind. Das führt zu Spannungen:
„Der Mangel wird relativ schnell klar. Wenn ich meinem Gegenüber klarmache, dass etwas fehlt, dann hat der etwas Wichtiges übersehen…“
Die unbeabsichtigte Folge: Das Gegenüber fühlt sich in seiner Kompetenz bedroht. Neid und Abwehr entstehen – selbst wenn der Hochbegabte nur helfen wollte und das auch meist nur auf der Sachebene wertet.
„Das Thema Hochbegabung hat deshalb einen schweren Stand, weil es automatisch Konkurrenz auslöst.“
Ein hochbegabter Mitarbeiter kann unbeabsichtigt als Bedrohung wahrgenommen werden. Der natürliche Fokus auf die Sache und die schnellere Auffassungsgabe erscheinen als Machtübernahme, obwohl es sich um Authentizität handelt.
Wie Rüdiger Hossiep und Detlef Scheer (2013) zeigen konnten, haben Hochbegabte gar nicht so viel Führungsmotivation, sondern wollen eher Prozesse effizient gestalten.
Gemeinsame Lösungsansätze für eine bessere Zusammenarbeit
Für Hochbegabte:
- Selbstfürsorge priorisieren: Die ständige Anpassung und Emotionsregulierung ist kräftezehrend. Auf die eigenen Energiereserven achten.
- Passende Nischen finden: Bereiche suchen, in denen andere aufgegeben haben. Hier kann das Talent für komplexe Problemlösung besonders wertvoll sein.
- Job-Crafting betreiben: Die eigene Rolle aktiv mitgestalten. Das Angebot so definieren, dass es besondere Fähigkeiten und Lösungen abseits der Erwartungen mit einschließt.
- Das eigene Alleinstellungsmerkmal kommunizieren: Deutlich machen, welchen einzigartigen Mehrwert man bieten kann.
- Bewusst Konflikte aushalten: Nicht jede Anpassung ist notwendig. Manchmal ist es besser, bei der eigenen Position zu bleiben – auch wenn es kurzfristig unbequem wird.
Für Führungskräfte und Auftraggeber:
- Erwartungen flexibel halten: Es gibt Lösungen jenseits der aktuellen Vorstellung. Eigene Grenzen können erweitert werden!
- Freiräume schaffen: Förderung bedeutet, Möglichkeiten zu schaffen, bei denen außergewöhnliche Leistung möglich wird.
- Potenzial aktiv nutzen: Die Frage stellen: „Welcher Mehrwert könnte entstehen, wenn diese Impulse aufgenommen werden?“
- Den Wert von Tiefe erkennen: Die Fähigkeit, Themen tiefgründig und auch abseits der Erwartung zu durchdringen, kann entscheidende Durchbrüche bringen.
- Die „Chaos-Klausel“ verstehen: Manche der besten Lösungen entstehen abseits vorgegebener Pfade. Raum für kreative Abweichungen lassen.
Fazit: Anpassung als gemeinsamer Prozess
Die Anpassungsleistung in Unternehmen sollte nicht einseitig von Hochbegabten kommen. Vielmehr braucht es ein Zusammenspiel, bei dem sich beide Seiten aufeinander zubewegen. Hochbegabte können lernen, ihre Erkenntnisse verständlicher zu vermitteln, während Organisationen Strukturen schaffen können, die unterschiedliche Denkstile fördern und „Out-of-the-box“-Lösungen zu schätzen wissen.
Es geht nicht um ein „Entweder-oder“, sondern um ein „Sowohl-als-auch“. Verschiedene Denkstile und Arbeitsweisen können sich gegenseitig bereichern und ergänzen. Die optimale Lösung liegt nicht in der einseitigen Anpassung, sondern in der Schaffung von Arbeitsumgebungen, in denen unterschiedliche Stärken zum Tragen kommen und sich gegenseitig verstärken.
Rücksichtnahme auf individuelle Arbeitsweisen kommt dabei allen Menschen in der Organisation zugute.
Wenn beide Seiten – Hochbegabte und ihr Umfeld – aufeinander zugehen, können gemeinsam Lösungen entwickelt werden, die das volle Potenzial aller Beteiligten freisetzen und zu Innovation und Erfolg führen.
An diesem Artikel haben mitgewirkt:
Astrid Puchinger, Hewig Vielreicher, Ute Schiebusch-Reiter, Heike Bojack, Melanie Nose, Jane Romer, Eva Kippenberg und claude.ai