Prokrastination kennt fast jeder: Das Verschieben von Aufgaben, die eigentlich erledigt werden müssten. Doch während die Ursachen bei den meisten Menschen in klassischen Faktoren wie Motivationsmangel oder mangelhaftem Zeitmanagement liegen, zeigt sich bei hochbegabten Mitarbeitern eine zusätzliche Schicht an Ursachen. Da gibt es noch eine Form der Prokrastination mit völlig anderen Wurzeln und Beweggründen…
Unterschiedliche Denkprozesse, unterschiedliche Prokrastination
Ein entscheidender Unterschied: Während normalbegabte Mitarbeiter häufig vor komplexen Aufgaben zurückschrecken und diese aufschieben, ist es bei Hochbegabten genau umgekehrt. Sie prokrastinieren offenbar eher bei einfacheren, sich wiederholenden Aufgaben, während sie komplexe Herausforderungen oft mit Begeisterung angehen. Insbesondere, wenn diese Aufgaben „selbst gefunden“ sind – einfach weil Abläufe und Prozesse nicht reibungslos funktionieren. Der Grund liegt in ihrer Denkstruktur, mit der sie Probleme in ihrer gesamten Komplexität erfassen und nachhaltige Lösungen entwickeln.
Die besondere Rolle des Perfektionismus
Hochbegabte Mitarbeiter zeichnen sich oft durch einen ausgeprägten Perfektionismus aus. Während dies oberflächlich als klassische Prokrastinationsursache erscheint, kann der Unterschied auch in der Herangehensweise liegen: Es geht nicht um die Angst vor dem Scheitern, sondern um den Wunsch, alle Aspekte eines Problems durchdacht zu haben. Was von außen als Verzögerung wahrgenommen wird, ist oft ein intensiver gedanklicher Prozess, der bereits lange vor der sichtbaren Umsetzung beginnt – was direkt die nächste Besonderheit auf den Plan ruft:
Wenn schnelle Lösungen nicht nachhaltig sind
Ein häufiges Dilemma für hochbegabte Mitarbeiterinnen: Sie erkennen frühzeitig die langfristigen Implikationen von Entscheidungen. Während andere schnell zu einer „80/20-Lösung“ greifen, sehen Hochbegabte bereits die Probleme, die sich daraus entwickeln können. Diese vorausschauende Denkweise wird jedoch oft als unnötige Verzögerung missverstanden. Abgabefristen können in diesem Dilemma helfen, müssen es aber nicht: Der Termin wird durchaus gehalten, aber es kann weiterhin sein, dass die vorliegende Lösung für den Hochbegabten eher ein Provisorium als eine nachhaltige Lösung darstellt. Aber mei – zumindest konnte die Frist eingehalten werden…
Vier entscheidende Aspekte der Hochbegabten-Prokrastination
Letzten Endes hat Prokrastination bei Hochbegabten vier entscheidene Aspekte:
1. Die Sinnhaftigkeit als kritischer Faktor
Hochbegabte haben ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit. Während andere Mitarbeiter auch weniger sinnvolle Aufgaben pragmatisch abarbeiten können, führt die fehlende Nachvollziehbarkeit des Sinns bei Hochbegabten zu echtem inneren Widerstand. Dies ist keine Verweigerung, sondern Ausdruck ihres Bedürfnisses nach tieferem Verständnis und Bedeutung ihrer Arbeit.
2. Die Kommunikationskluft
Eine zentrale Herausforderung für hochbegabte Mitarbeiter ist die Kommunikation ihrer Denkprozesse. Sie denken oft mehrere Schritte voraus und in komplexeren Zusammenhängen. Die Antizipation von Missverständnissen mit den Kollegen kann dazu führen, dass sie Kommunikation aufschieben – nicht aus Vermeidung, sondern weil sie bereits wissen, dass ihre Herangehensweise auf Unverständnis stoßen wird. Das ist dann auch Prokrastination, hat aber weder Zeitmanagement noch die Aufgabe als Ursache.
3. Der Kampf mit überflüssiger Komplexität
Besonders frustrierend ist für Hochbegabte, wenn einfache Lösungen durch unnötige organisatorische Komplexität verhindert werden. Wenn beispielsweise Frau Meyer etwas nicht freigeben kann, weil sie nicht „zuständig“ ist und „keine Befugnis“ hat und der Fortschritt dadurch aufgehalten wird. Und wenn dann noch darauf gewartet werden muss, dass Herr Schmidt – der als einziger die „Befugnis“ für xy hat, im Urlaub ist, dann ist der hochbegabte Ofen sehr schnell aus. Während andere Mitarbeiter solche Prozesse eher akzeptieren, erkennen Hochbegabte sofort die Ineffizienz und verlieren dadurch Motivation. Dies führt zu einer Form der Prokrastination, die aus dem Widerstand gegen unnötige Verkomplizierung entsteht. Solche Formen „systemischer Komplexität“ führt bei Hochbegabten oft dazu, dass sie viele Dinge beispielsweise in ihren Mails dokumentieren – einfach um später zeigen zu können, dass ihnen bestimmte Risiken oder Fehler bereits bekannt und durch sie an die relevanten Stellen kommuniziert waren. Diese Absicherung kostet Zeit und Nerven und ist nur auf eine sehr unbefriedigende Art „sinnvoll“.
4. Die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung
Ein wesentlicher Unterschied: Was manchem von außen als Prokrastination und Tatenlosigkeit erscheinen mag, ist bei Hochbegabten oft intensive gedankliche Arbeit. Zwischenstände der Gedankenprozesse werden oft nicht dokumentiert, weil sie dem Hochbegabten ja „eh klar“ sind und eine Dokumentation nur „sinnlose Zeitverschwendung“ ist. Und nachher landet die Dokumentation eines Zwischenschritts auch noch als „fertige Lösung“ auf dem Schreibtisch vom Chef – was wieder nur zum nächsten provisorischen Ergebnis führt! Die Erwartungen an die Lösung sind einfach unterschiedlich – was wir bereits im Blog-Artikel über die Gratifikationskrise benannt haben. Für Hochbegabte ist so etwas extrem frustrierend.
Fazit: Notwendige Differenzierung
Für Unternehmen ist es wichtig zu verstehen, dass Prokrastination bei hochbegabten Mitarbeitern anders zu bewerten ist als bei anderen. Statt klassischer Zeitmanagement-Lösungen braucht es für die Organisation:
- Ein tieferes Verständnis für unterschiedliche Denkprozesse
- Flexiblere Strukturen, die verschiedene Arbeitsweisen ermöglichen
- Bessere Kommunikationswege für komplexe Gedankengänge
- Die Bereitschaft, vermeintliche Prokrastination als möglicherweise notwendigen Reifeprozess zu akzeptieren
Und für die Hochbegabten braucht es
- Effektive Strategien, um Prozesse und Arbeitsfortschritte zu kommunizieren.
- Verständnis für die unterschiedliche Wahrnehmung und Priorisierung.
- Ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt
Wie so oft bleibt die Ursachenforschung eine wichtige Grundlage, um Prozesse und Verfahren weiterzuentwickeln – auf jedem Gebiet und in jedem Wirkungskreis.
An dem Artikel haben mitgewirkt: Eva Kippenberg, Melanie Nose, Astrid Puchinger, Yvette Uphoff, Faten Günther
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