Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Eisberg auf Kollisionskurs mit einem Schiff. Sie warnen den Kapitän, aber statt Dankbarkeit ernten Sie Unmut – denn der Eisberg ist noch weit entfernt, kaum sichtbar für andere, und Ihre Warnung stört den reibungslosen Ablauf der Schiffsreise. Ähnliche Situationen erleben viele Hochbegabte immer wieder am Arbeitsplatz.
Wenn Weitblick zum Problem wird
Die besondere Gabe Hochbegabter, Zusammenhänge frühzeitig zu erkennen und potenzielle Probleme vorausschauend zu identifizieren, wird paradoxerweise oft nicht als Stärke, sondern als Störfaktor wahrgenommen. Ein vertiefter Einblick in dieses Phänomen offenbart eine schmerzhafte Realität: Der Input Hochbegabter wird häufig als „Projektzerstörer“ interpretiert, weil er entweder im Vorfeld den Aufwand erhöht oder sogar bereits erfolgte Schritte und Annahmen in Frage stellt.
Warum ist das so? Die Antwort liegt in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Zeit und Konsequenzen. Während Hochbegabte oft mehrere Schritte vorausdenken und potenzielle Problemketten erkennen, fokussieren sich viele Führungskräfte auf unmittelbare, greifbare Herausforderungen. Diese Diskrepanz führt zu einer paradoxen Situation: Je weitsichtiger die Analyse, desto größer der Stress für Vorgesetzte – und desto geringer die Anerkennung der erbrachten (Denk-)Leistung. Diese Diskrepanz kann direkt in eine Gratifikationskrise führen. Denn wenn Leistung nicht gesehen wird, wird sie auch nicht belohnt – und das frustriert auf Dauer.
Das Dilemma der ständigen Rechtfertigung
Dabei ist es bei Hochbegabten oft nicht einmal die ausbleibende Anerkennung, die zur Frustration führt. „Es würde mir schon reichen, wenn ich mich nicht rechtfertigen müsste!“ – trifft den Kern des Problems fast noch genauer. Die kontinuierliche Notwendigkeit, das eigene Handeln zu erklären und zu verteidigen, schafft eine zusätzliche Arbeitsebene, die oft belastender ist als die eigentliche Projektarbeit. Hochbegabte sehen sich gezwungen, ihre Erkenntnisse zu „verpacken“ und strategisch zu dosieren, um andere nicht zu überfordern oder zu verunsichern. Diese ständige Gratwanderung zwischen fast automatisch erfolgender Problemanalyse und für andere akzeptabler Kommunikation führt zu einer Art „Schattenarbeit“ – wichtige Aufgaben werden im Verborgenen erledigt, um Konflikte zu vermeiden. Doch was nicht sichtbar ist, kann auch nicht gewürdigt werden – aber zumindest wird es dann auch nicht „bestraft“. Für die Hochbegabten zählt meist in erster Linie, dass das Projekt auf einem guten Weg läuft.
Die Erwartungsfalle
Ein besonders interessanter Aspekt zeigt sich in der Wahrnehmung von Leistung: Sie wird vor allem dann anerkannt, wenn sie vorhandene Erwartungen erfüllt. Dies stellt Hochbegabte vor ein Dilemma, denn ihre Ansprüche, ihre Arbeitsweise und Ergebnisse übersteigen oft den erwarteten Rahmen. Wenn die Messlatte der bewertenden Person niedriger liegt als die eigenen Standards, hat das zur Folge, dass auch die bewertende von der hochbegabten Person nicht ernst genommen wird – wir haben dann also womöglich eine gegenseitige Gratifikationskrise!
Das Raum-Zeit-Möglichkeiten-Kontinuum
Die Erwartungsfalle hat auch noch eine weitere Dimension: die hohe Geschwindigkeit, mit der Hochbegabte ihre Aufgaben erledigen können. Übersteigt diese Geschwindigkeit die Erwartungen der Kollegen (und das tut sie häufig…), so wird schnell angenommen, dass die Aufgabe nicht gründlich genug gemacht wurde. Es zählt nicht das Ergebnis, sondern nur der (zeitliche) Aufwand, der betrieben wurde, um die Aufgabe zu erledigen. Das wiederum führt dazu, dass Hochbegabte oft zeitlich „tricksen“ (müssen) – die Lösung beispielsweise fertig in der Schublade haben und einfach später abgeben. Die Zeit dazwischen kann aber kaum sinnvoll für die Arbeit genutzt werden, denn das würde ja auffallen. Und die Aufforderung, sich den Vorgang „doch noch einmal anzuschauen“, treibt Hochbegabte in den Wahnsinn.
Was tun?
Was können Organisationen und Hochbegabte tun, um diese Situation zu verbessern?
1. Wie so häufig im Leben stehen uns unbewusste Erwartungen besonders im Weg. Der erste Schritt ist also, sich über Erwartungen klar zu werden und diese deutlich zu kommunizieren. Allein über diesen Austausch lernen sich Menschen gegenseitig besser kennen und einzuschätzen, was für sich Differenzen abbaut und ganz nebenbei zu einem besseren Teamzusammenhalt führt.
2. Die Einschätzung der eigenen Leistung ist ein wichtiger Aspekt in der Selbstwahrnehmung. Hier ist häufig ein Impuls von außen hilfreich, dass die eigene Denkleistung womöglich schneller als im Normalfall ist. Dann ist der nächste Schritt, sukzessive das eigene Leistungsniveau im Vergleich zum Umfeld zu identifizieren. Diese Form von Transparenz ist entscheidend für das Selbstbild und damit auch für das subjektive Wohlergehen und die Lösungsfindung.
3. Um nicht in die oben beschriebene Raum-Zeit-Möglichkeiten-Falle zu tappen, empfiehlt sich eine verstärkte Ergebnisorientierung. Der Fokus sollte auf den erreichten Resultaten liegen, nicht auf dem Weg dorthin oder der aufgewendeten Zeit. Auf die Weise können verschiedene Projekte auch parallel weitergebracht werden.
4. Hochbegabten kann es helfen, sich Kommunikationsstrategien zu überlegen. Dabei ist der wichtigste Punkt Transparenz und Humor. Wenn ich deutlich anspreche, dass ich jetzt gleich etwas feststelle, was niemand hören mag, ist das Team schonmal vorgewarnt. Auch das Sichtbarmachen über die Strategie Fragen zu stellen (siehe auch den Artikel „Die Fragen dieser Welt„) gibt den anderen die Möglichkeit, sich an der Lösungsfindung zu beteiligen und den Denkprozess nachzuvollziehen.
Fazit
Gratifikationskrisen treten nicht nur bei Hochbegabten auf und werden oftmals durch einen veralteten Führungsstil verursacht. Eine traditionelle, hierarchische Führung ist beispielsweise stärker von Erwartungen durchsetzt als eine offene, dienende, transformative Führung. Je offener das System ist gegenüber Ideen und Beteiligung der Belegschaft, desto zufriedener ist die Belegschaft. Der erste Schritt zur Lösung liegt in der Erkenntnis, dass der Projekterfolg im Mittelpunkt steht und nicht das Leisten oder Versagen einzelner Beteiligter. Es trägt weder der die „Schuld“, der auf einen Fehler hinweist, noch derjenige, der den Fehler gemacht – oder einfach nicht gesehen – hat. Die Kunst liegt darin, einen Raum zu schaffen, in dem Herausforderungen und Weitblick nicht als Bedrohung, sondern als wertvolle Ressource und Wege zu besseren Lösungen verstanden werden.
An dem Artikel haben mitgewirkt Eva Kippenberg, Hedwig Vielreicher, Melanie Nose, Johannes Pölzl, Astrid Puchinger, Ute Schiebusch-Reiter, Alexa Graf, Barbara Amann
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