In der modernen Arbeitswelt steht die Leistungsbewertung vor einem fundamentalen Problem: Viele der wertvollsten Beiträge bleiben wahrscheinlich in der täglichen Geschäftigkeit einfach unsichtbar. Besonders hochbegabte Mitarbeiter erleben häufig, dass ihre besonderen Fähigkeiten – vorausschauendes Denken, komplexe Problemlösung und effizientes Arbeiten – im herkömmlichen Bewertungssystem nicht standardmäßig erfasst werden. Ein Dilemma, das sowohl für die betroffenen Mitarbeiter als auch für Führungskräfte zu Frustration führen kann.
Das Paradox der Präventivleistung
Stellen Sie sich vor: Eine IT-Sicherheitsexpertin arbeitet seit zehn Jahren im Unternehmen, und in dieser Zeit gab es keinen einzigen erfolgreichen Hackerangriff. Eine beeindruckende Bilanz? Sicherlich. Doch wird diese Leistung auch entsprechend gewürdigt? In der Hektik des Tagesgeschäfts kann es passieren, dass solche Präventivleistungen weniger Aufmerksamkeit erhalten, denn paradoxerweise wird das Fehlen von Problemen in der Regel nicht als aktive Leistung erkannt.
„Gefeiert wird oft derjenige, der das ertrinkende Kind rettet. Wer keine Wellen macht (also Probleme weit im voraus löst), bleibt im Hintergrund,“ fasst es ein hochbegabter Mitarbeiter treffend zusammen. Das Löschen von Bränden erregt naturgemäß mehr Aufmerksamkeit, während das Verhindern von Bränden – eine intellektuell oft anspruchsvollere Aufgabe – leichter übersehen werden kann. Die Kosten für Brandbekämpfung sind u.a. auf Basis von Erfahrungswerten gut kalkulierbar und damit als Opportunitätskosten in die Bewertung von Maßnahmen mit einzubeziehen. Meistens ist die Korrektur aufwändiger als die Prävention. Als Beispiel stelle man sich einen Öltanker vor, der mit kleineren Bewegungen des Ruders auf Kurs gehalten werden kann. Je größer die Kursänderung ist, die der Tanker bewerkstelligen muss (bevor er gegen den Eisberg kracht…), desto größer ist der Aufwand, der betrieben werden muss, um den Kurs zu korrigieren.
Effizienz als zweischneidiges Schwert
Hochbegabte Mitarbeiter stehen häufig vor einem moralischen Dilemma: Ihre Fähigkeit, Aufgaben in einem Bruchteil der Zeit zu erledigen, die andere benötigen, wird im Stundenlohnmodell nicht belohnt – im Gegenteil. Wer in vier Stunden leistet, wofür andere acht benötigen, steht vor der Wahl, entweder „Zeit abzusitzen“ oder mit weniger Einkommen nach Hause zu gehen.
„Ich habe irgendwann bemerkt, dass ich in der Hälfte der Zeit genauso viel leiste wie meine Kollegen,“ berichtet ein Betroffener. „Der Schritt, sich selbst zu erlauben aufzuhören, wenn der Job erfüllt ist, wird leider oft als Arbeitszeitbetrug angesehen.“
Was in dieser Gleichung manchmal übersehen werden kann: Hochbegabte übernehmen häufig, fast unbemerkt, die Arbeitslast mehrerer Positionen. Ohne groß darüber nachzudenken, erfüllen sie oft die Aufgaben von bis zu drei Vollzeitstellen – und zwar häufig in einer Qualität und mit einer Weitsicht, die den Wert dieser Leistung noch steigert. Dieses Phänomen wird interessanterweise oft erst bei einem Stellenwechsel bemerkt, wenn mehrere Mitarbeiter benötigt werden, um alle bisherigen Aufgabenbereiche abzudecken. Außerdem merken Hochbegabte häufig gar nicht, wieviele Brände sie im Vorfeld verhindern. Sie ertragen einfach ineffiziente Prozesse oder vermeidbare Schwierigkeiten nicht (Die „letzte Meile“) .
Die Maßstabsfrage
Die Herausforderung beginnt bereits bei der Definition von Leistung selbst. Der gesamtgesellschaftliche Leistungsbegriff ist naturgemäß nicht auf die 2,3% der Bevölkerung ausgerichtet, die als hochbegabt gelten. Ein Maßsystem, das für die Mehrheit konzipiert ist, wird den Begabungen einer Minderheit zwangsläufig nicht gerecht. Es kann die Leistung schlicht nicht messen, wie jemand, der kein Englisch versteht, die literarische Qualität eines englischen Romans nicht beurteilen kann.
„Die Leistung von Hochbegabten kann manchmal übersehen werden, da der übliche Maßstab auf ein anderes Tempo und eine andere Komplexität ausgelegt ist,“ erklärt eine Mitarbeiterin. „Das Ergebnis Hochbegabter sieht oft einfach aus, verbirgt aber komplexe Denkprozesse, die halt nicht sichtbar sind.“ In diese Denkprozesse sind häufig verschiedene Maßnahmen zur „Brandprävention“ bereits mitgedacht. Hochbegabte können oft auch nicht mit anschauen, wenn bei Kollegen etwas schief läuft und geben Hinweise und Hilfestellungen an diese weiter, so dass deren Arbeitsprozess massiv erleichtert und verkürzt wird. Diese Hinweise werden aber meist als „Gespräch in der Kaffeepause“ interpretiert. Dass das Erkennen von Schieflagen außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs auch eine kognitive Leistung ist, bleibt unbemerkt.
Wege aus dem Dilemma
Sowohl Führungskräfte als auch hochbegabte Mitarbeiter können Schritte unternehmen, um dieses Dilemma zu überwinden:
Für Führungskräfte:
Ergebnisse statt Stunden bewerten: Ein Paradigmenwechsel vom „Absitzen von Zeit“ hin zu „die Aufgaben sind erfüllt“ kann die Motivation steigern und gleichzeitig die Effizienz fördern. Dies erfordert klare Zielvereinbarungen.
Präventivleistungen sichtbar machen: Führungskräfte sollten aktiv nach möglichen Herausforderungen und Konsequenzen fragen und die präventive Lösung derselben im Team hervorheben. Die Fragen „Was könnte im aktuellen Projekt alles schief gehen? Was für destruktive Impulse könnten von außen auf uns zukommen? Was haben wir noch nicht berücksichtigt?“ können aufschlussreiche Antworten liefern.
Diversität in der Leistungsbeurteilung: Die Einbeziehung verschiedener Perspektiven in den Bewertungsprozess kann helfen, blinde Flecken zu vermeiden. Ein kollegiales 360-Grad-Feedback ist sicherlich objektiver als die Einschätzung einer einzelnen Führungskraft. Gerade im mittleren Management wird oftmals die Erfüllung der eigenen Erwartungen besser beurteilt als eine Leistung, die diese Erwartungen übersteigt (siehe auch die Blog-Beiträge Adaptability und Die Gratifikationskrise).
Für hochbegabte Mitarbeiter:
Selbstbewusstsein stärken: „Nur weil ich denke, dass ich nichts Besonderes leiste, weil diese Leistung für mich normal ist, stimmt das objektiv ja nicht,“ ist eine wichtige Erkenntnis. Die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls ist der erste Schritt, um die eigene Leistung angemessen zu vertreten. Hier hilft ein Blick über den Gartenzaun: Nur im Vergleich mit den Kollegen können wir die Quantität und Qualität unserer eigenen Arbeitsleistung einschätzen.
Leistungen kommunizieren: Die eigenen Denkprozesse und Arbeitsschritte transparent zu machen, kann anderen helfen, den Wert der geleisteten Arbeit zu erkennen. Besonders vorausschauendes Denken, das sich oft auch auf die Arbeit von Kollegen bezieht, sollte aktiv kommuniziert werden: „Ich habe für Peter die Moderation übernommen, damit wir mit klaren Ergebnissen aus der Besprechung rausgehen.“ Dabei geht es nicht darum, die Kollegen schlecht dastehen zu lassen, sondern darum, den eigenen Beitrag sichtbar zu machen. Oder auch bezogen auf die eigene Arbeit: „Mir ist beim Prüfen der Bauteile aufgefallen, dass das neue Rohmaterial leichte Abweichungen aufweist. Ich habe daher bewusst jedes Teil geprüft statt nur stichprobenartig, um spätere Reklamationen beim Kunden zu vermeiden.“ Dazu kommt, dass (auch über „inoffizielle Job-Crafting-Prozesse“) oftmals die Aufgaben oder Teilleistungen von Hochbegabten auf verschiedene Projekte verteilt sind, was die Breite und Tiefe der persönlichen Leistung verschleiert und für andere weniger sicht- und messbar macht. Wer seinen Beitrag hier offen und präzise kommuniziert, kann sich zusätzliche berufliche Entwicklungsmöglichkeiten schaffen.
Unabhängigkeit von externen Maßstäben: Die Erkenntnis, dass die eigene Leistungsfähigkeit außerhalb üblicher Maßstäbe liegt, kann befreiend wirken. „Meine Vergütung ist mein Lebensunterhalt und meine Leistung ist mein persönliches Standing. Ich möchte halt keine schlechte Qualität abliefern und ich kann auch nicht langsamer arbeiten.“ Diese Perspektive kann die Frustration eindämmen, weil sie den Fokus auf das eigene Leistungsbedürfnis lenkt. Hochbegabte haben typischerweise ein höheres Bedürfnis kognitiv anspruchsvolle Leistungen zu erbringen („Need for Cognition“).
Der Weg zu einer neuen Leistungskultur
Eine echte Lösung erfordert ein Umdenken auf beiden Seiten. Führungskräfte müssen bereit sein, herkömmliche Bewertungsmaßstäbe zu hinterfragen und anzupassen. Hochbegabte Mitarbeiter wiederum sollten lernen, ihre besonderen Fähigkeiten selbstbewusst zu kommunizieren.
Die Entkopplung von Arbeitszeit und Leistungsbewertung könnte ein wichtiger Schritt sein. Projektbasierte Vergütungsmodelle, bei denen der Fokus auf dem Ergebnis liegt, nicht auf der aufgewendeten Zeit, bieten hier vielversprechende Ansätze.
Letztlich geht es um eine Kultur der gegenseitigen Wertschätzung und des Verständnisses. Führungskräfte, die die besondere Denkweise hochbegabter Mitarbeiter verstehen und würdigen, können deren Potenzial voll ausschöpfen. Und hochbegabte Mitarbeiter, die ihre eigene Leistungsfähigkeit realistisch einschätzen und kommunizieren, erleben mehr Zufriedenheit und Anerkennung.
Der erste Schritt liegt vielleicht im Bewusstsein selbst – im Erkennen, dass Leistung viele Gesichter hat und dass gerade die unsichtbaren Leistungen oft die wertvollsten sind. Wer dieses Bewusstsein in seinem Team fördert, legt den Grundstein für eine produktivere und zufriedenere Arbeitsumgebung, in der jedes Talent sein volles Potenzial entfalten kann.
An dem Artikel haben mitgewirkt: Eva Kippenberg, Daniela Schnagl-Vitak, Ute Schiebusch-Reiter, Astrid Puchinger, Melanie Nose und claude.ai.