Du kennst das Gefühl: Da sitzt Du in einem Meeting und hörst Entscheidungen, die einfach keinen Sinn ergeben. Du siehst die Lösung kristallklar vor Dir, aber der Weg dorthin führt über drei Hierarchieebenen und mindestens zwei Menschen, die vom Thema keine Ahnung haben. Frustrierend? Absolut. Ungewöhnlich für Hochbegabte? Keineswegs.
Wenn Du hochbegabt bist, hast Du wahrscheinlich schon bemerkt, dass Du womöglich ein etwas angespanntes Verhältnis zu Hierarchien hast. Das liegt nicht daran, dass Du grundsätzlich rebellisch bist oder Autorität ablehnst. Es liegt daran, dass Dein Gehirn anders funktioniert – und herkömmliche Hierarchien oft nicht zu dieser Funktionsweise passen.
Das Dilemma der klaren Sicht
Als hochbegabte Person siehst Du oft sofort, wie Dinge reibungsloser laufen könnten. Du erkennst Muster, durchschaust Zusammenhänge und entwickelst Lösungen, während andere noch dabei sind, das Problem zu verstehen. Das führt zu einer interessanten Dynamik: Plötzlich sprichst Du so klar und überzeugend, als würdest Du die Entscheidung treffen – und oft wird das auch so akzeptiert.
Diese natürliche Autorität, die aus Kompetenz erwächst, steht manchmal im direkten Widerspruch zur offiziellen Hierarchie. Du findest Dich in Situationen wieder, wo Deine fachliche Expertise Dich de facto zur entscheidenden Stimme macht, auch wenn Dein Organigramm-Platz das nicht vorsieht.
Das mittlere Management als Herausforderung
Während Manager in den oberen Hierarchiestufen mit einer solchen Art der Autorität häufig gut arbeiten können, kann sie insbesondere im Austausch mit dem mittleren Management zu Konflikten führen. Die Gründe liegen vor allem im jeweiligen Fokus:
Das Top-Management denkt strategisch und über den Tellerrand hinaus – genau wie Du. Es geht „um die Sache“, und damit ist mehr Anschlussfähigkeit gegeben.
Das mittlere Management hingegen fokussiert sich oft auf den eigenen Bereich und kann dadurch für Deine Ideen eher hinderlich werden. Der „Blick über den Tellerrand hinaus“ verunsichert manche Führungskräfte eher, als dass er sie inspiriert. Dazu kommt, dass Du in der Hierarchie in Deiner Position womöglich manche „Befugnisse“ nicht hast, die zum Weiterkommen nützlich sind. Du findest Dich beispielsweise in der frustrierenden Situation wieder, dass Deine Projektleitung ins Leere läuft – bis plötzlich beispielsweise ein Bereichsleiter ins Boot kommt und die Türen aufgehen.
Deine besonderen Anforderungen an Strukturen verstehen
Wenn Du das mittlere Management durch Deine direkte Kommunikation mit anderen Hierarchieebenen übergehst, gibt es Probleme: Denn niemand wird gerne übersehen, im Job schon gar nicht. Und die „Hackordnung“ ist nun mal von oben nach unten – Deine Dir direkt „vorgesetzte“ Person wird also sicherlich nicht dulden, wenn Du an ihr vorbei agierst.
Als hochbegabte Person hast Du aber andere Anforderungen an Organisationsstrukturen. Klassische Hierarchien mit ihren starren Ebenen werden Deiner Art zu denken und zu arbeiten oft nicht gerecht. Du brauchst:
Eigene Verantwortungsbereiche: Du willst nicht nur Aufgaben abarbeiten, sondern echte Verantwortung übernehmen. Das bedeutet, Du brauchst einen klar definierten Gestaltungsraum, in dem Du auch ohne Rücksprache Entscheidungen treffen kannst.
Stabsstellen oder projektähnliche Strukturen: Diese ermöglichen es Dir, fachübergreifend zu arbeiten und Deine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, voll auszuschöpfen. Wenn das Top-Management Dein Potenzial erkennt, sollte es Dich in einer Stabsfunktion offiziell „zu sich“ holen.
Flache Hierarchien: In Start-ups oder kleineren Unternehmen, wo jeder alles können muss, fühlst Du Dich oft wohler als in starren Konzernstrukturen.
Transparenz als Schlüssel zum Erfolg
Eines der wichtigsten Bedürfnisse hochbegabter Mitarbeiter ist Transparenz. Wenn Du Hierarchieebenen überspringst – was als Hochbegabte häufig passiert und manchmal sogar von oben gewünscht wird – muss das offen kommuniziert werden. Manche Menschen haben ein schlechtes Gefühl dabei, eine Hierarchieebene einfach zu übergehen. Und in manchen Unternehmen kann ein solches Verhalten zur Kündigung führen. Gerade in diesem Fall ist es wichtig, transparent zu kommunizieren, was die Beweggründe für eine direkte Ansprache von Personen auf weiteren Hierarchieebenen sind.
Die Verantwortung bleibt dabei beim Vorgesetzten: Das übergeordnete Management muss den zwischengelagerten Ebenen gegenüber transparent machen, dass die „Einladung“ zum direkten Kontakt vom oberen Management kommt. Die Transparenz schützt Dich vor dem Vorwurf, Du würdest Hierarchien bewusst missachten. Und Du brauchst diese Klarheit, um sicher zu sein, dass Du alles versucht hast, die Strukturen zu respektieren, bevor Du andere Wege gehst.
Respekt vor Leistung statt vor Position
Du hast wahrscheinlich bemerkt, dass Du wenig Respekt vor einer Position hast, wenn die dahinterstehende Leistung nicht stimmt. Das ist typisch für Hochbegabte: Du durchschaust schnell, ob jemand wirklich kompetent ist oder nur eine Rolle besetzt.
Hierarchie bedeutet eben nicht zwangsläufig Kompetenz. Es nervt Dich total, wenn Du mit Menschen sprechen musst, die im Thema gar nicht drinstehen und dann trotzdem entscheiden sollen. Dir wird dagegen manchmal die Professionalität oder Kompetenz abgesprochen, nur weil Du nicht die entsprechende Position hast. Die Position definiert, „was Du können darfst“ – ein Konzept, das Deinem leistungsorientierten Denken widerspricht. Häufig fühlt sich das an wie damals in der Schulbank.
Dazu kommt, dass Dein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden oft gegen hierarchische Strukturen läuft. Warum hat der das große Büro, auch wenn er nie da ist? Warum bekommt jemand mehr Gehalt für weniger Leistung? Diese Fragen beschäftigen Dich mehr als andere, weil Du Defizite und Ungereimtheiten schneller erkennst. Das Peter-Prinzip (Beförderung bis zur Inkompetenz) treibt Dich in den Wahnsinn.
Verantwortung neu gedacht
Hier liegt ein wichtiger Schlüssel: Verantwortung bedeutet nicht unbedingt, dass Du eine disziplinarische Führungskraft werden musst. Du kannst auch „überfachlich“ Verantwortung übernehmen.
Du vereinigst Eigenschaften in Dir, die andere nicht haben: Du übernimmst gerne Verantwortung und bist bereit, autark zu arbeiten. Gleichzeitig willst Du vielleicht gar keine klassische Führungsposition. Das ist ungewöhnlich und wird daher oft nicht gesehen und erst recht nicht verstanden. Der Gedanke „Ich möchte Verantwortung übernehmen und habe einen Machtanspruch, will aber keine Führungsposition haben“ passt nicht in herkömmliche Karrieremodelle.
Führung bedeutet heute oft, Energie in Routinetätigkeiten wie Jahresgespräche, Dokumentation und Politik zu stecken. Der tatsächliche Gestaltungsraum ist oft relativ klein. Dabei haben Hochbegabte häufiger als andere Angestellte eine höhere Gestaltungsmotivation und eine niedrigere Führungsmotivation (siehe Hossiep et. al., 2013) – die Karriereleiter ist also nicht für sie gestrickt. Es müssen andere Wege gefunden werden.
Die Bedeutung der menschlichen Passung
Rückendeckung von oben ist für Dich als hochbegabte Person enorm wichtig. Du brauchst wohlwollende Vorgesetzte aus dem oberen Management, die Dein Potenzial erkennen und Dir den Rücken stärken.
Wenn das Top-Management Dich sieht und Du Dich im Top-Management sichtbar machst, kann es funktionieren. Der Schlüssel liegt darin, Dich selbst zu kennen und zu Dir selbst zu stehen. Du musst bereit sein, Deinen Namen auf Deine Leistung zu setzen und diese auch zu verteidigen.
Es kann strategisch klug sein, bewusst Hierarchiestufen zu überspringen, damit sich nicht andere mit Deinen Federn schmücken. „Verschleudere Dein Pulver nicht an falscher Stelle. Sage nur in relevanter Runde, was Deine Lösung ist!“ Das mag sich nicht ganz fair anfühlen, aber fremde Federn sind auch nicht fair.
Das Problem der Unterkomplexität
Eines der größten Probleme für Dich als hochbegabte Person: Das Einhalten der Hierarchie bedeutet oft „Unterkomplexität“. Du sollst nur in Deinem Bereich bleiben, aber Dein Gehirn will über Zäune klettern und in „Nachbars Garten klauen“.
Dieser mangelnde „geistige Auslauf“ führt zu Frustration und dem Gefühl der Fremdbestimmung. Du siehst automatisch Zusammenhänge über Bereichsgrenzen hinweg, erkennst Optimierungspotenziale in anderen Abteilungen, entwickelst übergreifende Lösungen – aber die Hierarchie verbietet Dir, aktiv zu werden.
Deine Optionen in hierarchischen Strukturen
Was kannst Du also tun? Hier sind einige Strategien, die funktionieren können:
Projektarbeit suchen: Projekte bieten oft mehr Flexibilität und die Möglichkeit, bereichsübergreifend zu arbeiten.
Fachkarrieren anstreben: Spezialisierung kann Dir Expertenstatus verleihen, der hierarchische Grenzen überwindet.
Start-ups oder kleinere Unternehmen wählen: Flache Hierarchien bieten mehr Gestaltungsraum.
Ausgründungen oder Hubs nutzen: Diese bieten oft die Flexibilität, die Du brauchst.
Selbstständigkeit erwägen: Als Solopreneur hast Du die volle Kontrolle über Deine Arbeitsweise.
Die Lust, etwas richtig zu tun
Am Ende geht es darum, dass Du die Lust hast, Dinge „richtig“ zu machen. Du willst nicht nur funktionieren, sondern gestalten. Du willst nicht nur Anweisungen befolgen, sondern Lösungen entwickeln.
Die gute Nachricht: Es gibt Wege, wie Du auch in hierarchischen Strukturen erfolgreich sein kannst. Der Schlüssel liegt darin, die richtigen Menschen zu finden, die Dein Potenzial erkennen und zu Deiner Art zu denken passen.
Du bist nicht schwierig – Du tickst nur anders. Und das ist genau das, was Organisationen brauchen, auch wenn sie es noch nicht alle erkannt haben.
Die Herausforderung liegt darin, Dich selbst zu verstehen, Deine Stärken zu kennen und die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen oder zu finden. Dann kannst Du Dein volles Potenzial entfalten – zum Nutzen aller.
An dem Artikel haben mitgewirkt: Eva Kippenberg, Corinna von der Mühlen, Melanie Nose, Astrid Puchinger, Barbara Amann und claude.ai