Die Qual der Wahl? Das Forced-Choice-Dilemma

Anpassung vs. Authentizität: Ein täglicher Balanceakt?

Das Forced-Choice-Dilemma beschreibt das Gefühl von Hochbegabten, entweder authentisch ihr Potenzial zu nutzen und dafür von der Peergroup (Klassenkameraden und/oder Kollegen) ausgegrenzt zu werden, oder ihre Leistungen den Durchschnittsleistungen anzupassen und dafür akzeptiert zu werden. Ein Mensch im Forced-Choice-Dilemma hat also die Wahl, sich entweder authentisch zu verhalten oder in einer Gruppe akzeptiert zu werden.

Nun möchten die meisten Menschen ganz gerne so akzeptiert werden, wie sie sind. Ist so.

Woher kommt eigentlich Akzeptanz?

Menschen beschäftigen sich besonders gerne mit anderen Menschen, die ihnen selbst möglichst ähnlich sind. Menschen mit gemeinsamen Interessen oder Vorlieben vermitteln sich gegenseitig Sicherheit und geben sich die Möglichkeit, sich im anderen zu spiegeln. Menschen, die anders sind, erzeugen dagegen ein Gefühl der Distanz. Über das Kennenlernen der Eigenarten der anderen kann diese Distanz überwunden werden – das ist jedoch immer mit einem Aufwand verbunden. Und Aufwand betreiben wir nur, wenn wir etwas davon haben – es muss also klar sein, dass sich der Aufwand „lohnt“.

Besondere Merkmale erzeugen Distanz

Das „anders“ sein betrifft alle Menschen mit besonderen Merkmalen, wie beispielsweise einer hohen Begabung. Es ist daher ein ganz normales Phänomen in der Wahrnehmung von Minderheiten. Die Differenz äußert sich beispielsweise in Verhaltensweisen oder Ausstrahlungen, die uns selbst fremd sind. Diese Ausprägungen kennen zu lernen ist der Aufwand, der die Distanz überwinden würde – sofern uns die Ursache für das Distanzgefühl überhaupt bewusst ist! Meistens ist das Distanzgefühl einfach ein „nicht mögen“ und man kann ja schließlich nicht jeden mögen. Und wer beschäftigt sich schon mit der Frage, warum genau er jemanden nicht mag?

Nun ist der Mensch jedoch ein soziales Wesen. Wer in seinem Umfeld häufig in der Minderheit ist – und das sind hochbegabte Menschen – hat also ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis, zu einer Gruppe dazu zu gehören. Wenn ich immer wieder eine Distanz zu der hauptsächlich zur Verfügung stehenden Gruppe wahrnehme, ist also die logische Schlussfolgerung, mich der Gruppe anzupassen oder eben eine Art Einsamkeit in Kauf zu nehmen –> das Forced-Choice-Dilemma.

Ein Denkfehler

Jedoch beinhaltet das Forced-Choice-Dilemma einen Denkfehler. Denn selbst wenn ich mich einer Gruppe anpasse, gehöre ich noch lange nicht wirklich dazu. Das Gefühl, nicht so ganz in die Gruppe zu passen, bleibt also auch bei Anpassung bestehen. Anders wird ein Schuh daraus: Wenn ich mich in einer Gruppe aufhalte, die Klingonisch spricht, kann ich mich entscheiden, mich zu der Gruppe zu gesellen und mit Händen und Füßen an der Unterhaltung teilzunehmen. Oder es ist mir zu aufwändig und ich lasse es. Dann bleibe ich von der Gruppe weg. Jedenfalls ist mein Versuch, Kontakt zu der Gruppe zu bekommen, vollkommen bewusst und es ist mir auch klar, dass ich die Sprache wahrscheinlich nicht so lernen werde, dass die Unterschiede verschwinden. Ein Leistungssportler fühlt sich in einer Gruppe von Hausfrauen, die sich zum Tennis treffen, auch etwas fehl am Platz. Eine Bergsteigerin kann auch einem Spaziergänger dann und wann mal den Rucksack tragen. Dann und wann. Wenn es zu oft ist, wird es langweilig. Und manchmal kann sie auch alleine auf einen Berg gehen, wenn niemand in der Nähe ist, der mit ihr die höchsten Gipfel erklimmt.

In guter Gesellschaft

Und wieder ist die Hauptfrage, den Kontakt zu einer Gruppe zu finden, in der das eigene Merkmal zur Geltung kommen kann. Spitzensportler trainieren, um sich selbst verbessern zu können, eher mit anderen Spitzensportlern. Hochbegabte sprechen, um ihre Gedanken weiter zu entwickeln, gerne mit anderen Hochbegabten. Und auch für einen Spitzensportler ist der Alltag nicht mit anderen Spitzensportlern gespickt. Aber jeder hat Verständnis dafür, dass die Spaziergänger für den Bergsteiger keine Herausforderung bieten. Und wenn dieses Verständnis da ist und der Bergsteiger ab und zu einen Gipfel erklimmen kann, geht er auch mal mit Spazieren.

Der Preis ist heiß

Der Knackpunkt ist, dass die Frage nach Anpassung oder nicht eben kein Dilemma ist, sondern eine klare Entscheidung: Wenn ich Zeit mit anderen verbringen möchte, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich ein Stück weit diesen anderen anzupassen. Ich zahle praktisch mit der Währung „Anpassung“ eine Eintrittskarte in eine Gruppe. Ich kann aus der Relation aus der Höhe des Preises und dem für mich entstehenden Nutzen entscheiden, ob ich bereit bin, diesen Preis zu bezahlen – oder nicht. Wenn ich den Preis nicht zahlen, also die Anpassung nicht leisten möchte, kann ich mich anders um meine Bedürfnisse kümmern. In so einem Augenblick ist die entscheidende Frage, welches Bedürfnis genau gerade überwiegt: Eins nach Gesellschaft oder eins nach Ausleben meines ganz persönlichen Selbst. In manchen Gruppen finden beide Bedürfnisse gleichermaßen ihre Befriedigung, in anderen nicht. Wenn mir der Preis der Anpassung zu hoch ist, steht womöglich gerade ein anderes Bedürfnis im Vordergrund, das meine Aufmerksamkeit braucht.

Und im Kollegenkreis?

Was heißt das nun für Hochbegabte im beruflichen Alltag? Letzten Endes genau das Gleiche: Habe ich gerade das Bedürfnis nach Austausch? Dann „kaufe“ ich das Gemeinschaftsticket zum Preis der Anpassung. Wenn das Bedürfnis nach „persönlichem Austoben“ überwiegt, schließe ich meine Tür oder suche mir einen Austauschpartner, der das mit mir kann.

Transparenz auf allen Ebenen

Und auch hier ist die Transparenz der Schlüssel zu einem guten Miteinander: Ich brauche eine Transparenz meiner eigenen Bedürfnisse mir selbst gegenüber, und auch mein Gegenüber braucht eine gewisse Transparenz meiner Beweggründe, um mein Verhalten gut und unabhängig von sich selbst einschätzen zu können. Wer einfach verschwindet, schafft nicht nur physische Distanz. Einfach zu verschwinden ist ein guter Nährboden für Vermutungen und Gerüchte. Als Gegenmittel reicht meistens etwas wie „Ich habe noch etwas zu erledigen (nämlich beispielsweise mein Bedürfnis nach kognitivem Input zu befriedigen) und geselle mich dann später zu Euch.“

An diesem Artikel haben mitgewirkt: Heike Fischer, Dana Schnagl, Eva Kippenberg, Corinna von der Mühlen, Barbara Amann

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