Der Blutdruck steigt, der Kopf schwirrt. Bei Martin stapeln sich die Aufgaben auf dem Tisch, er ist von der schieren Menge erschlagen, und Susi weiß nicht genau, womit sie anfangen soll – im Büro greift der Stress um sich. Karl-Heinz ist davon recht unbeeindruckt. Ihn stresst viel eher das subjektiv empfundene Chaos um ihn herum. Seine eigenen Aufgaben erledigt er mit relativ wenig Aufwand. Dazu kommt, dass Martin sein Chef ist und klare Vorstellungen davon hat, wie er seine Position als Führungskraft ausfüllen möchte. In Karl-Heinz Augen ist diese Art allerdings nicht sonderlich effektiv und die Aufgaben werden auch nicht im Plan erledigt…
Unterschiedliche Ansprüche
Hohe Begabungen beinhalten oft eine hohe Abstraktionsfähigkeit, die sehr schnell erkennen lässt, wo im Getriebe ein Sandkorn hängt. Und dieses Sandkorn kann für sie ein grandioser Stressor sein – vor allem, wenn es von den Kollegen nicht gesehen wird. Für die Kollegen ist dagegen eher stressig, wenn eingespielte Arbeitsabläufe in Frage gestellt werden. Die Ansprüche Hochbegabter an Prozesse und Kollegen sind hoch – wenn sie das Sandkorn sehen können, müssen alle anderen es doch auch sehen?! Und wenn ich eine bestimmte Lösung im Kopf habe, müssten alle anderen doch auch eine Lösung parat haben? Bei Hochbegabten ist oft nicht klar, was die Henne und was das Ei ist: Die andauernde Lösungsbereitschaft oder die erhöhte Gestaltungsmotivation. Beides kann für Kolleginnen und Kollegen anstrengend sein. Und beides kann bei hochbegabten Mitarbeitern begleitet sein von einer im Vergleich zur Norm geringeren Führungsmotivation1. Das kann dazu führen, dass Gestaltungsideen und Lösungen an Stellen oder in einer Häufigkeit angeboten werden, die der Position nicht entspricht – was zu Spannungen und Stress auf beiden Seiten im Team führen kann2.
Kommunikation
Und auch in diesem Zusammenhang spielt wieder die Kommunikation eine große Rolle. Zwischen allen Beteiligten und auf allen Ebenen. Denn was wir im Kopf haben, befindet sich nicht automatisch in den Köpfen der anderen. Also braucht es Kommunikation – womit wir direkt beim nächsten Stressor wären. Denn unterschiedliche Begriffe oder Definitionen und unterschiedliche Erfahrungshorizonte können das gegenseitige Verständnis erschweren. Auch die Erfordernis, sich an das Tempo und die Denkstruktur anderer Menschen anzupassen, kann stressig sein. Das fängt bei der Sprechgeschwindigkeit an und hört beim Inhalt nicht auf. Der eine schweift weit ab und verliert sich im Detail, die andere erklärt nur rudimentär und viel zu schnell – Kommunikation ist nicht trivial. Hochbegabte Menschen weichen durch ihre Denkstrukturen in verschiedenen Aspekten vergleichsweise weit von der Norm ab und müssen sich dadurch im Durchschnitt stärker anpassen. Gelingt die Anpassung weniger gut, besteht wieder ein potentieller Stressor im Team.
Alleine in Gedanken
Die Unterschiedlichkeit in Denkstrukturen und -geschwindigkeit und deren Ausdruck kann also für alle Beteiligte ein Auslöser von Stress sein. Was dem einen zu schnell geht, geht der anderen zu langsam. Und doch möchte man auch mit anderen zusammen arbeiten, denn der Mensch ist ja grundsätzlich ein soziales Wesen: Wir brauchen den Austausch mit anderen Menschen, um uns selbst verorten zu können. Wer jedoch in mehreren Merkmalen von der Mehrheit abweicht, kann sich schnell „außen vor“ und nicht dazugehörig fühlen. Und auch dieses Gefühl kann Stress auslösen. Umso wichtiger kann es für Hochbegabte sein, sich mit anderen begabten Menschen auszutauschen – wir haben im April bereits darüber geschrieben.
Durch die verschiedenen sozialen Stressoren arbeiten viele Hochbegabte ganz gerne mal alleine – was vielleicht den Nachteil haben kann, dass der Austausch mit anderen noch weniger geübt wird. Im Kopf erscheint das Bild des stereotypen „Nerds“, der von alten Pizzakartons umringt vor dem Computer hängt. Aber dieses Bild ist irreführend. Denn wenn Hochbegabte zwischenzeitlich die Möglichkeiten haben, ihre Gedanken und Prozesse auszuleben, haben sie wieder viel mehr Kapazitäten, sich auf andere einzustellen. Das „Wie“ des Austauschs ist entscheidend. Denn alle Menschen wollen letzten Endes zu einer Gruppe dazugehören und eine Anerkennung für ihre Leistung haben.
Der Effekt guter Kommunikation
Diese Anerkennung zeigt sich beispielsweise sehr deutlich in dem Willen, den anderen und dessen Position zu verstehen. Das gilt für alle Beteiligten. Diese Haltung beinhaltet, die eigenen Erwartungen und Meinungen erst einmal hinten anzustellen. Stress resultiert auch aus zum Teil unausgesprochenen Erwartungen oder dem Anspruch, den Erwartungen anderer unbedingt gerecht werden zu müssen. Die eine hat hohe Erwartungen an Kommunikation und Struktur, der andere an Selbstverantwortung. Solche Erwartungen aus- und anzusprechen ist in Teams oft der erste Schritt in ruhigere Fahrwasser. Wir Menschen schließen alle viel zu schnell von uns auf andere. Zwar lernen wir schon als kleine Kinder, dass andere Menschen einen anderen Blickwinkel einnehmen können, als wir selbst – das nennt man „theory of mind“. Doch mit der konsequenten Umsetzung dieser Erfahrung hapert es oft bis ins hohe Alter.
Neben verschiedenen anderen Techniken für den individuellen Bedarf ist also eine klare Kommunikation im Team ein wichtiger Schlüssel zu weniger beruflichem Stress. Das will geübt sein. Erwartungen, Belastungen, Wünsche, Bedarfe… nehmen Sie Nichts als selbstverständlich bekannt hin! Diese Einstellung macht persönliche Erwartungen transparent und stellt sie hinten an – und macht damit den Weg frei für einen stressfreien Austausch auf Augenhöhe.
An diesem Blog-Artikel waren beteiligt: Eva Kippenberg, Ute Schiebusch-Reiter, Hedwig Vielreicher, Heike Fischer, Heike Bojack, Teekay (Thorsten) Kreissig
Suchen Sie Unterstützung darin, die Kommunikation im Team zu verbessern? Wir begleiten Sie gerne!
1 Vgl. Hossiep und Scheer (2013): Zusammenhänge zwischen Hochbegabung und berufsbezogenen Persönlichkeitseigenschaften, Forschungsbericht Ruhr Universität Bochum
2 Vgl. auch Noks Nauta (2013): Labour Disputes of Gifted Employees, Gifted and Talented International 28(1), August 2013; and 28(2), December 2013.