Was nicht passt wird passend gemacht

In vielerlei Hinsicht lebt unsere Gesellschaft von Anpassung – im Großen ebenso wie im Kleinen. In Familien ebenso wie in Organisationen oder der Gesellschaft als Ganzes. In der Debatte um Diversität werden diese Themen inzwischen deutlich thematisiert. Aber was genau ist Anpassung und wie unterscheidet sie sich von Integration? Wie kann ein Umfeld so gestaltet werden, dass Anpassung unnötig und Integration möglich wird?

Spieglein, Spieglein, an der Wand…

Hier geht es nicht um Schönheit. Hier geht es eher darum, dass die Reaktion der Umwelt als Spiegel unseres Verhaltens und unserer Persönlichkeit wahrgenommen wird. Für „normale“ Menschen fungieren in der Gesellschaft ganz viele andere Personen als „Spiegel“. Schwierig wird es für Menschen, die in manchen Bereichen von der „Norm“ abweichen. Je deutlicher die Abweichung, desto weniger „normale“ Spiegel befinden sich im Kabinett, desto weniger ähnliche Menschen finden sich im Umfeld. „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Martin Buber). Wenn das Verhalten im Gegenüber keine Resonanz findet, leidet das Selbstbild. Die Ansicht gleicht eher einem verzerrten Spiegelkabinett auf der Kirmes, wo manche Spiegel auch mit Glasscheiben ersetzt sind, als dem Spiegelkabinett in einem Ballsaal, in dem ich mich von allen Seiten betrachten und wahrnehmen kann.

Ist Anpassung überhaupt möglich?

Anpassung ist in gewissem Rahmen möglich und passiert in unserer Gesellschaft überall und jeden Tag. Sie ist praktisch Bestandteil einer Kultur. Eine Kultur ist in jeder Familie etwas anders, in jeder Organisation und in jeder Gesellschaft. „When you are in Rome, do as the Romans do.“ Und auch innerhalb einer jeden Kultur gibt es wieder individuelle Abweichungen, die sich dann im Sammelbegriff „Diversität“ wiederfinden. Der Grad, mit dem ich mich einer Gesellschaft anpassen muss, um in ihr respektiert zu werden, ist der Grad, mit dem Integration nicht gelebt wird. Je weniger ich mich anpassen muss und trotzdem respektiert werde, desto mehr entsteht etwas Neues, was alle Beteiligten integriert.

Verstecken spielen, um sich zu zeigen

Bei Hochbegabten ist die Abweichung von der Norm im Kopf versteckt und damit nicht direkt sichtbar. Hochbegabte unterscheiden sich beispielsweise durch ihre Denkgeschwindigkeit, das Abstraktionsvermögen, das Komplexitätslevel ihrer Ideen. Dadurch stoßen sie im Umfeld immer wieder auf Unverständnis. Ihr Verhalten wird nicht gespiegelt, ihr Abbild geht im Spiegelkabinett verloren. Es bleibt die Unsicherheit darüber, ob die Idee nun gut oder schlecht ist, die korrekte Einschätzung der eigenen Ausdrucksweise, Handlung, Sichtweise und letzten Endes auch Leistung ist nicht möglich. Selbstzweifel sind die natürliche Folge einer solchen Orientierungslosigkeit. Dieser Zweifel kostet Energie und führt dazu, dass wir uns anpassen – Menschen sind soziale Wesen und wollen nach Möglichkeit „normal“ sein.

Haben Sie schon einmal versucht, sich auf der Kirmes in einem Spiegelkabinett so hinzustellen, dass Sie normal aussehen? Ist im ersten Augenblick ganz lustig – auf die Dauer ist es mühsam und anstrengend. Und so balanciert der Hochbegabte in einer „normalen“ Welt die meiste Zeit zwischen Selbstzweifel und Anpassungsanstrengung. Man nennt das auch ein „Forced-Choice-Dilemma“. In diesem Fall ist es keine körperliche, sondern eine geistige Verrenkung. Die Sprache und Wahrnehmung Hochbegabter unterscheidet sich eklatant von der anderer Menschen und je nach Umfeld müssen sie praktisch jeden Satz und jede Information simultan übersetzen. Dadurch, dass die meisten Hochbegabten diese Anpassung von Kindesbeinen an gewohnt sind, fällt sie ihnen nicht einmal mehr auf. Sie wissen einfach nicht, wieviel Energie sie eigentlich zur Verfügung haben und können das Loch im Bottich nicht identifizieren. Die Größe des Lochs hängt davon ab, wie stark die Abweichung vom Umfeld ist. Je größer das Loch ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für gesundheitliche und psychische Effekte.

Anpassung versus Integration?

Wir stellen also fest, dass eine dauerhafte Anpassung kaum möglich ist. Selbst wenn beide Seiten sich anpassen, bleibt immer eine Lücke. Anpassung ist immer mit Ressourcenverbrauch verbunden. Besser ist eine Integration – jeder ist und bleibt einfach, wie er oder sie ist und wird so akzeptiert. Stellen wir uns vor, wir laufen durch ein Spiegelkabinett, in dem verzerrte und glatte Spiegel in einer guten Durchmischung aufgehängt sind. Dann bleiben die verzerrten Spiegel interessant, denn die glatten Spiegel erlauben immer wieder eine Bestätigung, dass ich in Ordnung bin. Was bedeutet das also für das Umfeld?

Raum für Erkenntnis

Jeder Mensch schafft sich natürlicherweise ein Umfeld, das mit ähnlichen Menschen gespickt ist. Je besser ich ein Merkmal greifen kann, desto leichter fällt es mir, dieses Umfeld zu gestalten. Mit unsichtbaren Merkmalen wie der Intelligenz ist das aber so eine Sache: Im Zweifel werden sie eben nicht gespiegelt. Für solche Merkmale ist also das Thema Aufklärung und Diagnostik essentiell. Beobachte ich also eine Person in meinem Umfeld, die irgendwie anders ist und nicht so ganz hineinpasst, hilft ein guter Austausch enorm. Wenn die Organisation Wissen zu bestimmten typischen Diagnosen und Verhaltensweisen unsichtbarer Merkmale bereithält (dazu gehören alle Merkmale, die heutzutage unter „Neurodiversität“ zusammengefasst werden: Hochbegabung, Hochsensibilität, Autismus, ADHS etc.), erleichtert dies den Austausch zwischen den Menschen. Plötzlich bekommt die Frage „Was würde Dir helfen?“ einen Sinn, denn es gibt dazu ein Angebot.

Integration durch Gruppierungen

Wenn ich meine Abweichung kenne, kann ich mir gezielt ein Umfeld aufbauen, das mich besser spiegeln kann. Auch hierbei kann eine Organisation ihre Mitglieder gut unterstützen – wenn abweichende Merkmale thematisiert werden, finden sich die Menschen mit diesen Merkmalen leichter zu einer Gruppe zusammen und können sich austauschen. Vielleicht kann die Organisation sogar entsprechende Treffen und Austauschmöglichkeiten anbieten. Gemeinsamkeiten schaffen Ressourcen. Wenn ich mich in mehreren Spiegeln in meiner Umgebung erkennen kann, schaue ich lieber auch mal in einen gebogenen Spiegel. Und das gilt umso mehr, wenn der gebogene Spiegel auch freundlich zurücklächelt, weil er sich eben auch selbst (er)kennt.


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An der Erstellung des Artikel waren beteiligt: Eva Kippenberg, Astrid Puchinger, Barbara Amann, Hedwig Vielreicher, Heike Fischer, Corinna von der Mühlen, Ute Schiebusch-Reiter

Das Bild wurde mit Dall-E erstellt.

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