Talentmanagement wird in vielen Organisationen durchaus großgeschrieben. Insbesondere in Zeiten von Fachkräftemangel wird seine Bedeutung weiter in den Vordergrund gerückt. Doch trifft das übliche Talentmanagement auch den Bedarf?
Die unsichtbare Herausforderung
Wenn wir Unternehmen auf hochbegabte Mitarbeiter ansprechen, bekommen wir oft eine ambivalente Reaktion. Üblicherweise ist es den Personalabteilungen und Diversitätsbeauftragten durchaus bewusst, dass sie hier Handlungsbedarf haben – insbesondere bei Technologiefirmen und in anderen „einschlägigen“ Branchen. Auf der anderen Seite geben fast alle zu, dass sie in dieser Hinsicht noch nichts unternehmen. Wie denn auch? Das Thema ist ein Tabu. Hochbegabte selbst wollen oft aus Angst vor Stigmatisierung nicht, dass ihre Begabung bekannt wird. Die meisten wissen wahrscheinlich gar nicht, ob sie hochbegabt sind.
Nicht nur die Wurst hat zwei Enden
Gutes Talentmanagement für hochbegabte Mitarbeiter setzt an zwei Enden an:
Das eine Ende ist die hochbegabte Person selbst: Viele Fragen zum Selbstbild beantworten sich leicht, wenn eine Begabung bekannt ist. Für die persönliche Entwicklung spielt dabei eine große Rolle, wie ich vom Umfeld gespiegelt werde. Für hochbegabte Menschen ist es daher sehr wichtig, sich – durchaus auch neben der Arbeit – ein Umfeld zu suchen, in dem sich andere hochbegabte Menschen aufhalten. Denn die Themen, die Gedankensprünge – sogar die Sprechgeschwindigkeit ist in diesem Umfeld eine andere. Das Bewusstsein über die eigenen Eigenarten und die Gewissheit, bei einer Gruppe „dazu zu gehören“ erlaubt ein größeres Verständnis für die Eigenarten der nicht hochbegabten Kollegen. Doch auch wenn ich mir meiner Begabungen bewusst bin, kann es eine Weile dauern, die eigenen Ansprüche einordnen zu können. In diesem Zusammenhang spielt der Perfektionismus eine große Rolle.
Der Geist der Erkenntnis
Doch wie schaffe ich es, dass die Personen sich mit ihrer Begabung auseinandersetzen oder überhaupt auf die Idee kommen, dass sie womöglich hochbegabt sind? Hier kommt das andere Ende – das Arbeitsumfeld – ins Spiel. Ganz im Sinne der zu Recht viel geforderten Diversität muss das Arbeitsumfeld einen Geist haben, in dem individuelle Besonderheiten gesucht und akzeptiert werden. Jede Fähigkeit ist wertvoll in einer Organisation. Jedoch birgt eine Hochbegabung noch einen potentiellen Neid-Effekt: Eliteförderung ist in Deutschland verpönt. Gleichzeitig gibt es viele Vorurteile und daraus resultierende Reaktionen gegenüber Hochbegabten, die von Ehrfurcht bis Verachtung reichen. Wenn Claudia gerade ihre Ausbildung in verkürzter Zeit mit Bravour abgeschlossen hat und sofort als Vorstandsassistentin gehandelt wird, löst das Neid und Irritationen aus. Wie das gehen kann – drei Hierarchiestufen auf einmal überspringen! –, ist für andere oft nicht nachvollziehbar. Die Funktionsweise eines hochbegabten Gehirns und was diese für den Menschen bedeutet, ist die große Unbekannte.
Ein Bild malen, ohne die Farben zu kennen
Wie kann das Umfeld entsprechend gestaltet werden, wenn eben diese Funktionsweise nicht klar ist? Wenn sogar die Hochbegabten selbst oft nicht wissen, was sie brauchen? Über eine zielführende Haltung haben wir bereits im November 2023 geschrieben. Auf einer Meta-Ebene geht es zuerst einmal darum, sich gegenseitig beim Denken zuzuhören und dadurch sich selbst und die Kollegen besser kennen zu lernen. Unbekanntes bekannt machen. Denkstrukturen offenbaren. Aus diesem Prozess resultiert eine Art Job-Crafting, das jedoch an organisatorischen Strukturen scheitern kann. Wenn Stellenbeschreibungen zu fixiert und unflexibel sind, wird es mit Talentförderung schwierig. Stabsstellen oder „Hubs“ können einen Ausweg bilden. Und mit Sicherheit gibt es in jeder Organisation noch zusätzliche, ganz individuelle Lösungsmöglichkeiten, wenn das Bewusstsein für die Herausforderung vorhanden ist. Dann kann das Resultat sein, dass Stefan drei Jobs in vier Abteilungen parallel macht.
Jedem das Seine
Was bleibt, ist der Neidfaktor. Was löst denn Neid aus? Wenn einer mehr bekommt als ich. Die Lösung ist allerdings nicht „alle das Gleiche“, sondern „jedem, was er braucht“. Dazu muss ich zuerst einmal herausfinden, was jeder braucht – und schon schließt sich der Kreis, denn auch hier hilft es, den anderen beim Denken zuzuhören. Lisa möchte einen bestimmten Parkplatz, Mark möchte zu einer bestimmten Zeit Schluss machen, Klaus möchte Zeiten, in denen er ungestört arbeiten kann und Claudia (die von oben…) möchte anspruchsvolle Aufgaben, die sie kognitiv auslasten.
Wenn der Fokus auf den Bedürfnissen aller Mitarbeiter liegt, verschwindet die Besonderheit des Einzelnen – denn alle sind plötzlich etwas besonders. Wenn diese Besonderheiten und besondere Fähigkeiten gesehen werden und Berücksichtigung finden, dann gibt jeder sein Bestes. „High End Talentmanagement“ ist eben nicht ein Management, das auf „High Talents“ fokussiert. Es ist ein Talentmanagement, das in seiner eigenen Qualität „high end“ ist und damit alle Beschäftigten optimal fördert.
An diesem Artikel haben mitgewirkt: Eva Kippenberg, Barbara Amann und Hedwig Vielreicher.
Wenn Ihre Organisation eine Übersicht erhalten will, was genau Hochbegabung ausmacht, welche Herausforderungen sie für alle Betroffenen mit sich bringen kann, wie ich sie als Personaler erkennen und auch testen kann, dann schreiben Sie uns an. Wir versorgen Sie mit Informationen und begleiten auch gerne den Prozess, die individuellen Herausforderungen zu erkennen und zu meistern.