Menschen sind bunt und facettenreich. Trotzdem werden immer wieder Typisierungen angeboten: Der Schüchterne, die Draufgängerin, „Typ Macho“ etc. In der Welt der Hochbegabten sind das dann „Scanner“, „Nerds“, „Streber“, „Underachiever“ und so weiter und so fort. Typisierungen helfen uns, Dinge einzuordnen und damit in der vielfältigen Welt den Überblick zu behalten. Doch ist das immer sinnvoll und angemessen?
Ein Plädoyer für Individualität
Typisierungen werden gerne genutzt, um sich selbst in der Menge von Merkmalen zu verorten – denn wenn es einen „Typ“ dazu gibt, dann bedeutet das, dass auch andere Menschen diese Merkmale haben. Hochbegabte, die häufig mal das Gefühl haben in die üblichen Gruppen nicht zu passen, werden durch dieses abstrakte Zugehörigkeitsgefühl emotional entlastet. Jedoch entscheiden sie in diesem Moment selbst, welche Anteile von ihnen zu welchem Typ passen. Werden diese Typen „nach außen“ vermittelt, landen sie als Mensch in einer Schublade, in die doch eigentlich nur ein kleiner Teil von ihnen gehört.
Zum Beispiel der „Nerd“
Stefanie programmiert. Gerne und gut. Sie kann tagelang in einen Code abtauchen, Fehler suchen und finden und neue Features einbauen. Findet sie klasse. Als „Nerd“ möchte sie dennoch nicht in die Annalen eingehen – auch wenn sie gegen den Begriff nichts hat – , denn außerdem spielt sie noch Saxophon in einer Band, schwimmt synchron im Verein und engagiert sich ehrenamtlich im nahegelegenen Hospiz. Hätte man das von einem „Nerd“ gedacht?
Blinde Flecken
Bei Hochbegabten kann das Auftreten von scheinbaren Widersprüchen in der Persönlichkeit extreme Formen annehmen. Sie können beispielsweise in einer Gruppe sehr introvertiert wirken und im nächsten Augenblick – beispielsweise bei tiefgehenden Gesprächen – ganz aus sich herausgehen. Oder das Beispiel von Stefanie, die beim Coden sehr genau und detailorientiert arbeitet, in der Band aber eher flink mit dem Saxophon improvisiert oder im Hospiz einen guten Überblick über die jeweiligen Bewohner hat.
Wer im Unternehmen in einer Schublade steckt, wird vornehmlich durch diese bestimmte Brille gesehen. Dass eine Person tatsächlich sehr breit aufgestellt ist und in den verschiedenen Bereichen trotzdem tiefgehendes Wissen mitbringen kann, ist nicht wirklich üblich – bei Hochbegabten aber auch nichts Besonderes. Es erfordert eine gewisse Offenheit, wenn man als Organisation von diesem Wissen profitieren möchte. Wissen Sie beispielsweise, wieviele Sprachen Ihr Assistent spricht? Fließend? Und wenn Sie Programmiersprachen noch dazu nehmen?
Nicht alle Hochbegabten sind Atomphysiker mit Doktortitel oder Ärzte. Es gibt hochbegabte Menschen, die arbeiten gerne zum Beispiel auch als Pförtner. Oder Hausmeister. Das gibt ihnen viel Zeit, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, die sie wirklich interessieren. Was direkt den nächsten Punkt einleitet:
Fähigkeiten ohne Abschluss
Hochbegabte setzen sich aus purem Interesse oft tiefgehend mit Themen auseinander und erarbeiten sich profundes Wissen. Am Ende stehen sie dann mit Expertenwissen da und haben aber kein Zertifikat oder Abschluss dazu. Manchmal führt das dazu, dass der Hochbegabte sich selbst keinen Expertenstatus zuerkennt, ihn aber eigentlich hat. Für Organisationen, die an eine Auflistung von Zertifikaten und Bildungsabschlüssen gewöhnt sind, erschwert es diese Besonderheit, außergewöhnliche Fähigkeiten richtig einzuschätzen oder überhaupt wahrzunehmen. Gerade in Deutschland wird dem Nachweis auf dem Papier vielfach mehr Respekt gegenübergebracht als der Substanz zwischen den Ohren.
Kurse zu belegen, an deren Ende ein Zertifikat winkt, entspricht jedoch oft nicht der Art, wie Hochbegabte lernen. Das Tempo ist zu langsam, der Aufbau zu spezifisch oder zu wenig spezifisch, der Inhalt zu unflexibel. Viele Hochbegabte lernen problemorientiert: Eine Frage taucht auf, sie fangen an zu recherchieren und hangeln sich dann – quasi „on-the-job“ – an der Aufgabenstellung entlang in die Tiefe und nehmen noch die eine oder andere Seitenschleife mit. Viele Hochbegabte arbeiten sich schnell und tief in Themen ein und sind daher in Organisationen flexibel zur Lösungsfindung einsetzbar. Die Geschwindigkeit, mit der das geschieht, ist für andere Menschen oft verblüffend.
Strukturelle Grenzen brechen
Für in Stellenbeschreibungen strukturierte Organisationen kann es fast unmöglich erscheinen, hochbegabten Mitarbeitern entsprechend vielfältige Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Bestimmte Positionen sind in Abteilungen aufgehängt und da passt dieses oder jenes Projekt nun mal nicht rein und – um Himmels Willen – unter welcher Kostenstelle soll ich DAS denn jetzt schon wieder buchen? Bei der Erarbeitung der Struktur kann es dabei hilfreich sein, Stabsstellen oder flexible Positionen vorzusehen. Hierdurch wird die gesamte Organisation flexibler. Aber auch die Aufteilung einer Stelle auf mehrere Kostenstellen und eine breitere Stellenbeschreibung erhöhen die Flexibilität. Interessant ist der Gedanke, ob eine solche flexiblere Struktur auch bei anderen Mitarbeitern das Denken „out of the box“ fördert und damit die Lösungsfindung in Unternehmen beschleunigt.
Individualität und Transparenz
Wir landen – mal wieder – bei der Feststellung, dass die Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Bedürfnisse unausweichlich ist, wenn ich als Geschäftsführer die Ressourcen meiner Belegschaft optimal nutzen möchte. Und es reicht eben nicht, dass diese Ressourcen – wenn überhaupt – auf dem Lebenslauf in einer Datei vermerkt sind. Ich brauche insbesondere bei herausfordernden Fragestellungen eine Schatzsuchermentalität für Ressourcen und Fähigkeiten, die im Unternehmen gut versteckt schon längst vorhanden sind.
Die Vielfältigkeit hochbegabter Menschen zeigt sich nicht nur in unterschiedlichen Charakterzügen, sondern auch in scheinbaren Widersprüchen. Hochbegabte können sowohl sehr rational als auch emotional sein, sich schnell langweilen oder viele verschiedene Interessen verfolgen. Die Lösung besteht darin, diese Vielfalt nicht in Schubladen zu stecken, sondern sie als Bereicherung für das Unternehmen zu nutzen.
Dieser Artikel wurde an einem Themenabend des Proteus-Projekts unter Mitarbeit von Eva Kippenberg, Catalina Beckhoff, Ute Schiebusch-Reiter, Astrid Puchinger, Barbara Amann und Heike Fischer erstellt.